Es ist verlockend zu glauben, dass ein gutes Motiv schon ein gutes Foto ergibt. Alles, was wir brauchen, ist ein schöner Baum, eine großartige Aussicht oder ein beeindruckender Berggipfel. Ich glaube aber, dass das nicht ausreicht: Wir müssen jedem Zentimeter, jedem Pixel unseres Bildes Aufmerksamkeit schenken und über das Motiv hinaussehen. Andernfalls könnte es passieren, dass wir ein Bild erhalten, das dem erstaunlichen Motiv, das wir gefunden haben, nicht gerecht wird. (Adrian Vila).
Das ist die sinngemäße deutsche Übersetzung eines Textes mit dem einer der monatlich erscheinenden Newsletter von Adrian Vila im Vorjahr begonnen hat. Adrian - besser bekannt als „AOWS“ ist ein spanisch-amerikanischer Fotograf, der sich auf die Schwarz-Weiß Fotografie spezialisiert hat, seine Motive bei Spaziergängen in der Natur oder im dörflichen Raum findet und seine Fotos (#aowsimages) überwiegend im quadratischen Format präsentiert. Sein Newsletter erscheint monatlich und dort veröffentlicht er aktuelle Bilder und seine Gedanken rund um die Fotografie, von denen viele als Inspiration für das eigene Schaffen dienen können. Empfehlenswert ist auch sein YouTube Kanal "AOWS", weil er mit seiner unaufdringlichen Art und seinen Videos, die oft sehr viel Ruhe ausstrahlen, für mich eine Nische in diesem Genre gefunden hat und sich damit wohltuend von vielen anderen abhebt.
Angelehnt an den Text in der Einleitung - wenn ich einen interessanten Baum beim Spazieren oder Vorbeifahren mit dem Auto sehe, freue ich mich oft bereits im Vorfeld, dass ich bald ein gutes Motiv in der Tasche bzw. auf der Speicherkarte haben werde. Manchmal kommt es aber doch anders... . Im Sucher wirkt das gefundene Motiv auf einmal nicht so beeindruckend, wie ich es mir zuerst gedacht habe. Dann bin ich mit der Bildkomposition gefordert: Was lasse ich weg, was lenkt vom Hauptmotiv ab, was stört meinen guten ersten Eindruck, den ich vom Motiv hatte, nun im Sucher meiner Kamera? So gehe ich dann daran, das Bild von Elementen, die das Auge vom Motiv ablenken könnten, zu befreien. Das mache ich aber nicht im Anschluß in Photoshop, sondern versuche meinen Standort vor Ort gleich so zu verändern, dass störende Elemente sich dann außerhalb des Sucherrahmens wiederfinden. Allerdings sind diese Versuche trotz des augenscheinlich lohnenden Motivs nicht immer von Erfolg gekrönt, weil einfach der Zeitpunkt nicht gepasst hat. Ich war zwar am richtigen Ort, aber scheinbar zum falschen Moment.
Adrian schreibt in diesem Newsletter daher sehr passend weiter, dass wir als Fotografen auch in der Lage sein müssen, das Potenzial eines Motivs zu sehen. Wenn ein Bild nicht funktioniert, kann es daran liegen, eine andere Tages- oder auch eine andere Jahreszeit zu wählen.
Diese Erfahrung habe ich schon - wie soeben erwähnt - öfters machen "dürfen". Mein bevorzugtes Gebiet zum Fotografieren ist auch ob ihrer Nähe die Ost- und Süd/Oststeiermark und natürlich auch meine unmittelbare Gegend rund um meine Heimat Kainbach östlich von Graz. Auf der Suche nach Motiven für meinen „Kalender für Kainbach 2022“ war ich 2-3 mal im Schaftal (Graz-Umgebung) und entdeckte eine abschüssige Wiese mit drei Bäumen. Immer wenn ich dort vorbeikam, schnappte ich mir die Kamera und versuchte im Sucher das Bild zu finden, was ich glaubte beim Vorbeispazieren aufgestöbert zu haben. Leider entsprach es im Sucher der Kamera und auch daheim am Monitor aber nie dem, was ich gehofft hatte, entdeckt zu haben.
An einem sehr kalten Wintertag im Dezember des Vorjahres brach ich zu einer kleinen Fototour auf. Die Sonne, die ich gerne an diesem Tag genossen hätte, ließ mich zwar im Stich (sie machte keine Anstalten ihren Durchbruch an diesem Vormittag zu schaffen), trotzdem raffte ich mich mit meiner Kamera auf, hinauszugehen. Ich war nur in meiner unmittelbaren Umgebung unterwegs und kam wieder in das bereits erwähnte Schaftal. Und diesmal passte das Motiv für mich. Dieses - an diesem kalten Wintertag aufgenommene - Bild spiegelt die zu diesem Zeitpunkt von mir empfundene Kälte und die Winterstimmung, die mich an diesem Tag umgab, gut wider.
Mich hat diese Erfahrung wieder einmal gelehrt, Motive, die vielleicht beim ersten oder zweiten Mal nicht 100%ig meinem Anspruch, was ein "gutes Bild" ausmacht, gerecht werden, trotzdem aufzunehmen. Ich sammle diese auf der Festplatte als Notiz für spätere Fotoausflüge, wo Licht, Jahreszeit, Wetter etc… anders sind. Von Zeit zu Zeit blättere ich in meinem „Fotonotizbuch“, um den Ort nochmals aufzusuchen. So ist schon aus dem einen oder anderen dieser Fotos ein Bild geworden, wie ich es zwar schon gerne früher aufgenommen hätte, welches aber dann schlußendlich zu einem späteren Zeitpunkt für mich das erhoffte Ergebnis gebracht hat.
Dieses Bild wurde auch jüngst von Photocircle kuratiert und in meine Galerie dort aufgenommen. Photocircle ist eine Onlinegalerie, in der Künstler aus der ganzen Welt kuratierte Kunst ausstellen. Mit jedem verkauften Bild fließt ein Teil des Verkaufserlöses (den diesbezüglichen Prozentsatz legen die Künstler für jedes ihrer Werke individuell fest) in nachhaltige Projekte. Aktuell gibt es ein Klimaschutzprojekt in Äthiopien. Wenn Ihr mehr darüber erfahren wollt und Euch auch vielleicht meine Bilder, die in der Galerie auf Photocircle vertreten sind, ansehen möchtet - hier ist der link dazu: Galerie Bernd Grosseck auf Photocircle.
Zum Schluß noch, damit Ihr Euch ein bißchen mehr vorstellen könnt, wie das heute besprochene Bild in seiner Umgebung zu einer anderen Jahreszeit aussieht, zeige ich Euch dieses Motiv, wie ich es für mich im Sommer letzten Jahres als Notiz aufgenommen habe. Links vom Haus sind zwei kleinere Bäume zu erkennen, weiter links ein etwas Größerer. Dieser Baum ist das Hauptmotiv des heutigen Titelbildes. Durch einen Standortwechsel sind bei der winterlichen Aufnahme die hinteren Bäume, die für mich eine Ablenkung vom Hauptmotiv gewesen wären, dann "aus dem Bildausschnitt gefallen" und somit nicht in der Bildkomposition berücksichtigt worden.
P.S.: Ein weiteres Beispiel für ein Motiv, das ich als "Notiz" schon einmal aufgenommen hatte und dann bei guten Bedingungen im Winter fotografieren konnte, findet Ihr in meinem Beitrag: "Von Kainbach nach Tokyo". Dieses Winterbild hat zu meiner großen Freude auch schon internationale Anerkennungen erfahren.
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Lukas (Samstag, 19 Februar 2022 21:14)
Schöner Impuls, danke!