“Oft entfaltet sich der künstlerische Prozess in den einsamen Stunden” (Ingmar Bergmann).
Mein Streetphotographie-Projekt “Sound of Silence”, das übrigens zu meiner sehr großen Freude bei den “Annual Photography Awards 2021” in der Kategorie “Street” mit einer "honorable mention” ausgezeichnet worden ist, geht nun in sein viertes Jahr. Meist gegen Jahresende veröffentliche ich dazu einen Beitrag mit aktuellen Bildern und ein paar Gedanken zum Thema Alleinsein vs. Einsamkeit. So auch heuer wieder und warum ich das Zitat von Ingmar Bergmann vorangestellt habe, auf das komme ich ein wenig später.
Auch nach rd. fünf Jahren, 2017 habe ich mit diesem Projekt begonnen, finde ich immer noch entsprechende Motive zu diesem Thema. Der Artikel im Vorjahr beinhaltete nur Bilder, die ich im Rahmen eines Venedigbesuches im Oktober 2021 gemacht hatte, die heuer gezeigten Fotos sind an unterschiedlichen Orten aufgenommen worden. Von der Inspiration zu diesem Projekt und seiner Entstehungsgeschichte habe ich in meinem Blog schon berichtet - die links dazu findet Ihr am Ende dieses Beitrages.
Die Menschen auf meinen Bildern streifen einsam durch die Straßen, sitzen alleine auf Plätzen oder spazieren ohne Begleitung durch die Gegend. Das Lied “Sound of Silence”, das meinem Fotoprojekt den Namen gegeben hat, hat als Hauptthema die Vereinsamung der Menschen in der modernen oberflächlichen Gesellschaft. Das Lied wurde vor nahezu 60 Jahren geschrieben und der Text ist zeitlos.
Das Zitat von Ingmar Bergmann habe ich an den Beginn dieses Beitrags gestellt, weil es auch gut zu mir passt. "Alleinsein" ist für mich und mein kreatives Schaffen immer wieder erforderlich, um Ideen zu entwickeln und meine Art der Fotografie auch umzusetzen. Einsam bin ich dabei nicht. Ein wesentlicher Punkt für mich ist, dass ich, wenn ich alleine mit der Kamera unterwegs bin, eine viel höhere Aufmerksamkeit für die Dinge in meiner Umgebung habe. Das ist ein gutes Beispiel für Achtsamkeit, für das “im Hier und Jetzt sein”. Diese Konzentration unterstützt in hohem Maße die Motivsuche, lässt Unwichtiges ausblenden und reinigt auch des öfteren den Kopf von Störefrieden, von lästigen Gedanken.
Es gibt unter Fotograf*innen genügend Beispiele, die ihr kreatives Schaffen ebenso und noch viel stärker aus Zeiten, die sie alleine verbringen, herausholen. Vor ein paar Tagen erst sah ich auf YouTube Videos des von mir für seine Art des Bildermachens und seiner sympathischen Art der Präsentation sehr geschätzten Fotografen Adrian Vilas von seiner Fotoreise durch Norwegen.. Besser bekannt ist er unter “aows”. Adrian war für seine Skandinavienreise zwei Monate und zehn Tage mit dem Auto unterwegs. Sein Seat war Reisemobil, Schlafstätte, Arbeitsplatz etc… . Gekocht wurde unter der Heckklappe, wie er in einem seiner Videos gezeigt hat. Sein Fokus war in dieser Zeit ausschließlich auf das Fotografieren gerichtet und er verbrachte diese Zeit alleine mit sich auf engstem Raum.
Auch der Natur- und Wildlifefotograf Morten Hilmer macht sich immer wieder auf, um alleine Tage in Wäldern zu verbringen und das auch zu jeder Jahreszeit, bei allen Wetterbedingungen. Das Betrachten von manchen seiner Videos, wo vermeintlich wenig passiert, entschleunigt beim Ansehen.
Einer der Fotografen, dessen Werk ich in hohem Maße schätze, ist der britische Landschaftsfotograf Michael Kenna, der heute in den USA lebt. Einer seiner bekanntesten Bildbände, der 2015 erschien, heißt “Forms of Japan”. Über die Entstehung zu einigen der Bilder für dieses Buch, habe ich einmal gelesen, dass Michael Kenna um seinen 50. Geburtstag rd. ein Monat als Pilger unterwegs war und 88 buddhistische Tempel in Japan besucht hat. Wenn man durch das Schaffen von Michael Kenna stöbert, findet man zahlreiche Aufnahmen, die Ruhe und eine formale Einsamkeit ausstrahlen. Oft hält er nachts für mehrere Stunden den Verschluss seiner Hasselblad offen und erlebt eine meditative Stille, die sich in seinen Bildern widerspiegelt.
Drei Beispiele von fotoschaffenden Künstlern, die im Alleinsein Kraft, Energie und Kreativität für ihr fotografisches Schaffen schöpfen.
Ein negatives Beispiel unter Fotograf*innen, wo das Alleinsein in trauriger Einsamkeit endete, ist sicherlich Vivian Maier, eine Fotografin, die nach ihrem Tod eine Berühmtheit im Genre der Streetphotographie geworden ist. Das ehemalige Kindermädchen, das ein großes Werk, das überwiegend in New York entstanden ist, hinterlassen hatte, ohne, dass sie es selbst kannte. Vivian Maier verbrachte ihre letzten Jahre als Obdachlose, starb einsam und verarmt.
Diese Reihe an Fotograf*innen, die ich stellvertretend herausgesucht habe, um Alleinsein bzw. Einsamkeit in Verbindung zu bringen, ließe sich noch lange fortsetzen. Aber lassen wir diese einmal beispielhaft stehen, wenn man einen Zusammenhang von selbst gewähltem Alleinsein und dem tragischen Zustand einer Einsamkeit mit Menschen, die ihren Fokus auf die Fotografie richten bzw. bei Vivian Maier gerichtet haben, herstellt.
Teilweise können diese Beispiele nicht unterschiedlicher sein. Bei Vivian Maier wird es keine bewußt gewählte Einsamkeit gewesen sein, bei Michael Kenna, Morten Hilmer und Adrian Vila war dieses Alleinsein während seiner Reise, so nehme ich an, ein selbst gewählter Zustand. Hier möchte ich, wie ich auch schon in den vergangenen Begleittexten zu diesem Fotoprojekt immer wieder angeführt habe, kurz auf die Differenzierung zwischen einem “Alleinsein” von einer “Einsamkeit” hinweisen. Der Unterschied zwischen einem selbst gewählten Zustand, einem bewußten “Alleinsein”, das Freiheit bietet und der Einsamkeit, einem inneren Befinden, das uns eingesperrt fühlen lässt.
Von Albert Einstein stammt das Zitat: "Die Monotonie und Einsamkeit eines ruhigen Lebens stimuliert den schöpferischen Geist." Auch wenn es mehr als vermessen ist, einem Satz von Albert Einstein etwas hinzuzufügen, möchte ich das dennoch tun. Einsamkeit, wenn sie selbst gewählt ist, kann eine wichtige Quelle für die Kreativität sein, zu entspannen und um Energie zu tanken. Wichtig ist, wie in vielen anderen Bereichen unseres Lebens, dass wir wählen können.
Einsamkeit ist ein schwerer Gegner, den man nur schwer alleine besiegen kann. Eine bewußte Auseinandersetzung mit diesem Thema kann vielleicht Bewußtsein schaffen, dem einen oder der anderen, die wir in unserem Umfeld kennen, beim Kampf gegen diesen zumeist unfreiwillig gewählten Zustand zu unterstützen. Ein Vorhaben, das wohl gut in die jetzige Zeit passt.
P.S.: Mit dem oberen Foto nahm ich heuer erfolgreich am Hartlauer Fotowettbewerb: "Warten der entscheidende Moment" teil und dieses Bild schaffte es auch in die Ausstellung der Hartlauer Fotogalerie am Pöstlingberg in Linz (Ö) vom 29.04. - 26.06.2022
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Kurt (Donnerstag, 08 Dezember 2022 19:46)
.Danke für den wunderschönen Beitrag. Habe schon sehr auf einen Beitrag von dir gewartet.
liebe Grüße Kurt
Werner (Freitag, 09 Dezember 2022 09:29)
Wunderbarer Beitrag.
Mein Wort dafür, das zu beschreiben, was du für die Fotografie festmachst, ist "Melancholie". Sie durchweht viele große Werke der Kunst ganz allgemein.
Danke für diesen Text. Er passt gut in den Advent hinein (und sein Inhalt sollte uns öfter begleiten).
Alles Gute für dich
Werner
Dirk (Freitag, 09 Dezember 2022 13:00)
Diese "Sound-Of-Silence-Serie" verfolge ich schon länger mit einem inneren Lächeln. Es ist dir wunderbar gelungen, den Moment des Alleinseins ins rechte Licht zu stellen. Ja, es ist ein hohes Gut. Die Fotos samt Text gehen rein wie warme Milch mit Honig... ;-)
Eine beseelte Zeit, herzlich,
Dirk
Bernd (Sonntag, 11 Dezember 2022 19:29)
Bedanke mich herzlich für Eure Kommentare. Sound of Silence ist eines meiner Lieblingsfotoprojekte, weil mich dieses Thema einfach nicht loslässt und weil es immer im Kopf ist, wenn ich in „Sachen Streetphotographie unterwegs bin“. Hoffe, dass ich nächstes Jahr wieder eine Fortsetzung liefern kann - Ihr habe mich jedenfalls sehr dazu motiviert!
Christopher (Dienstag, 28 Februar 2023 15:14)
Ein toller Beitrag!
Darf ich fragen, wo das Augsburger Bild entstanden ist?
Ich konnte die Gasse meiner Heimatstadt ad-hoc noch nicht zuordnen :)
Bernd (Dienstag, 28 Februar 2023 18:46)
Danke Christopher ... den Namen der Gasse kann ich Dir leider nicht sagen, aber es war - glaube ich eine Seitengasse der Annastraße oder ganz in ihrer Nähe. Denn dort habe ich drei Minuten später ein Bild mit dem Sonnenblumenfeld aufgenommen, das über den Köpfen derer hängt, die durch die Annastraße spazieren.